Warum gefällt uns Botero? Ein Essay zu Geschmacksfragen.

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Fernando Botero: Studie eines maennlichen Modells (1972)

Fernando Botero: Studie eines maennlichen Modells (1972)

 

 

Warum gefällt uns Botero?
Ein Essay zu Geschmacksfragen.

von Conny Habbel. Zuerst erschienen in: Evelyn Benesch (Hg.): Fernando Botero. Katalog zur Ausstellung im Kunstforum Wien. Hatje Cantz Verlag 2011.

 

Ein Mann in klassischer Porträtpose, die Beine übereinandergeschlagen; eine Hand auf das Knie gestützt, blickt er nachdenklich in die Leere eines dunklen Raumes. Neben dem Dargestellten das Attribut, das ihn genauer charakterisiert: ein Legionärshelm mit Busch. Stehen wir vor einem repräsentativen Herrscherporträt des 18. Jahrhunderts? Einiges in Fernando Boteros Studie eines männlichen Modells ließe darauf schließen, doch der Gesamteindruck des Gemäldes stimmt hiermit nicht überein. Wir sehen den Akt eines Mannes, dessen Proportionen nicht so recht zusammenpassen wollen, sein Körper ist viel zu breit im Verhältnis zu seinem kleinen Kopf, den kurzen Händen und Füßen. Die Behaarung seiner Brust, der Arme und Beine wurde in liebevoller Detailarbeit ausgeführt, auf eine rührende Art erinnert die männliche Körperbehaarung an das Fell eines Stofftiers. Der Dargestellte blickt verträumt über den Betrachter hinweg, wieder in der Tradition repräsentativer Porträts.
Man sieht ihm jedoch das Warten eines Modellsitzenden an, der an etwas ganz anderes denkt als an seine Pose, dabei aber dennoch respektabel und würdevoll aussehen will. Der Porträtierte trägt eine kleine, spielzeugartige Armbanduhr, deren Niedlichkeit jedes Zeichen des Stolzes, wie er etwa durch den Helm zum Ausdruck kommt, untergräbt. Im Hintergrund ein weiteres überraschendes Detail: Hier ist nicht etwa ein Fenster, durch das man das Reich eines Herrschenden sehen würde, wir finden stattdessen einen Holzofen, darauf eine dampfende, rundliche Teekanne. Beim Betrachten von Studie eines männlichen Modells erleben wir eine seltsame Mischung an Eindrücken: von repräsentativer Würde über Hässlichkeit bis hin zu rührender Lieblichkeit.
Auch in anderen Werken des kolumbianischen Künstlers Fernando Botero begegnen wir einer solch ambivalenten Verbindung. Unproportionale und wuchtige Personen, mit Gesichtsausdrücken von dümmlich bis fratzenhaft, fröhlich oder einfach nur starr, bevölkern seine meist farbenfrohen Ölgemälde. Welche Wahrnehmungsketten sind es, die seine seltsamen Figuren in uns auslösen? Warum finden so viele Menschen Gefallen an Boteros Werken?

Geschmacksfragen

Wir haben gelernt, dass der persönliche Geschmack Privatsache sei, ein Thema, über das man nicht streiten könne. »Die Geschmäcker sind eben verschieden«, so sagt man. Hinter solchen Redewendungen steckt die Vorstellung, dass jeder seinen rein subjektiven Geschmack hat, der sich in keinem sozialen Kontext rechtfertigen muss. Doch warum ist er so, wie er ist, unser Geschmack? Welche Eindrücke haben ihn zu dem geformt, was wir nun als ureigen erleben, und warum geschieht es dennoch, dass unser Geschmack uns manchmal überrascht, beispielsweise indem wir etwas zu lieben beginnen, das uns zuvor als abscheulich erschienen ist? Gerade über Geschmack lässt sich streiten, denn er unterliegt einer spezifischen Logik, und weder seine Beschaffenheit noch seine soziale Verteilung sind zufällig gelagert. Lieben wir nicht bestimmte Objekte auch deshalb, weil wir mit bestimmten Leuten einig sein beziehungsweise andere von uns fernhalten wollen? Inwiefern dienen ästhetische Urteile dazu, Menschen zu vereinen oder voneinander zu separieren? Auf die soziale Dimension ästhetischer Urteile weist Pierre Bourdieu in seinem 1979 veröffentlichten Werk Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft hin. Der Soziologe zeigt auf, dass konkrete Ausprägungen von Geschmacksvorlieben für Kunst, Musik, bestimmte Möbel, Speisen etc. als Folge des jeweiligen sozialen Status zu verstehen sind.1 Im Geschmack der herrschenden Klasse wird Kunst, so Bourdieu, weniger nach ihrer sozialen oder persönlichen Funktion beurteilt als vielmehr nach ihrem Stil. Der populäre Geschmack findet hingegen nur solche Motive interessant, die »schöne« oder »wichtige« Ereignisse zeigen, wie etwa die Fotos einer Erstkommunion oder einen Sonnenuntergang am Meer. Entsprechend bewertet die Oberschicht etwa auch Speisen nicht primär danach, ob sie sättigen oder nicht – ein Umstand, der bei weniger privilegierten Schichten weit mehr in die Betrachtung einfließt. Der Primat der Form setzt einen Code voraus, der uns hilft, Dinge wie auch Stilrichtungen zu entschlüsseln. Auch die Kenntnis, dass ein spärlich bestückter Teller mit halbrohem japanischem Kobe-Rind als besonders fein und wertvoll gilt – obwohl der Schweinebraten beim Kirchenwirt weit mehr ausgibt –, ist Teil dieses sozial ungleich verteilten Wissens. Ohne solche Entschlüsselungskompetenzen scheint uns der Sinn einer spärlichen Mahlzeit wie auch der eines Kunstwerks einfach rätselhaft und »nicht für uns gemacht«.

Gegenstand und Betrachter

Nicht zuletzt geht aus Bourdieus Thesen hervor, wie sehr ästhetische Urteile von der Position des Betrachters abhängen. Dass der Satz »das ist gut« weniger über das beurteilte Objekt als viel mehr über den beurteilenden Betrachter aussagt, weiß auch der Volksmund, wenn er davon spricht, dass Schönheit im Auge des Betrachters liege. Wir sagen also in unseren geschmacklichen Urteilen offenbar mehr über uns selbst aus als über die Objekte, die wir beurteilen. Den Gegenständen schreiben wir dabei Qualitäten zu, die im Grunde eher unserem Verhältnis zu ihnen geschuldet sind. Benedictus de Spinoza schrieb, »daß wir nach nichts streben, nichts wollen, nichts erstreben, noch begehren, weil wir es als gut beurteilen, vielmehr umgekehrt, daß wir etwas darum als gut beurteilen, weil wir danach streben, es wollen, erstreben und begehren.« 2 Hierzu führt der Philosoph Robert Pfaller aus, dass sich unser Geschmack in einer Art Wettkampf mit anderen Geschmäckern befinde, denen er gleichtun oder die er gar übertrumpfen wolle. »Dazu muss er [der Geschmack] die Einschätzung der anderen übrigens nicht unbedingt lückenlos teilen; im Gegenteil, besser ist es sogar, wenn er mit seinem Urteil den anderen um eine Nasenlänge voraus ist. Aber dazu muss er immerhin antizipieren, was die anderen Geschmäcker unter ›vorne‹ bzw. ›voraus‹ verstehen.« 3 Geschmack kennt also eine soziale Hierarchie, es gibt ein »Vorne«, ein »Oben«. Pfaller räumt ein, dass die Orientierung in diesen Wertigkeiten keine einfache Aufgabe sei. Wenn es unserem Geschmack aber gelinge, so gefalle er sich mitunter sogar darin, mit seiner Einschätzung alleine dazustehen. »Weil seine einsame Position eine von den anderen zwar nicht geteilte, wohl aber begehrte ist.«4 Im Wettbewerb der Geschmäcker gibt es also nicht nur die Zugehörigkeit zu gewissen Klassen und Gesellschaftsschichten, die wir durch unsere ästhetischen Vorlieben manifestieren möchten, es gibt offenbar auch einen Anspruch auf Originalität. Die Königsdisziplin scheint es nicht zu sein, nur in den Gewässern des »legitimen Geschmacks«5 mitzuschwimmen. Erst wenn es gelingt, sich sogar über ihn zu erheben und eine Einzelposition jenseits dessen zu erklimmen, was übereinkommend als ästhetisch wertvoll anerkannt wird, ist die Kür vollbracht. Wie verhält es sich bei dem Geschmack, der sich von Boteros Kunst angesprochen fühlt? Bezugspunkt der folgenden Überlegungen ist eine westliche Perspektive, die Boteros Kunst losgelöst von ihrer lateinamerikanischen Tradition betrachtet.

Der schöne Schrecken und das Schrecklich-Schöne

Das Zwiespältige zieht uns mehr als alles andere in seinen Bann. Man findet nicht nur das faszinierend, was schön, harmonisch und angemessen ist. Oft sind dies gerade solche Phänomene, die uns irritieren, uns vielleicht sogar anekeln, Dinge, die uns übertrieben erscheinen, die wir hässlich oder misslungen finden, oder solche, die uns peinlich berühren. Besteht nicht Barbra Streisands Glamour gerade in ihren eigenwilligen Gesichtszügen und dieser charakteristischen Nase? Denken wir an Jennifer Lopez’ prominenten Po, der am Anfang ihrer Schauspielkarriere von den Kameras tunlichst ausgespart wurde und den sie inzwischen mit 27 Millionen Dollar versichert hat, da er ihr wertvollstes Markenzeichen ist!6 Lieben wir nicht die Performance des Queen-Sängers Freddie Mercury gerade wegen, nicht trotz seines markanten »Pferdegebisses«? Mit einem trägen Blick betrachtet, wären diese Eigenarten nachteilig für ihren Besitzer. Mit Stolz präsentiert und mit Mut rezipiert, kann jedoch gerade in diesen Makeln der Moment des »gewissen Etwas« aufblitzen. Wie wird aus etwas Unproportionalem etwas ästhetisch Reizvolles oder Faszinierendes? Es gibt verschiedene ästhetische Konzepte, die uns hierüber Aufschluss geben können.

Keine Angst vor übergroßen Gewalten: das Erhabene

Immanuel Kant bezog sich in seiner Ästhetik des Erhabenen auf die erschreckende Unermesslichkeit von Phänomenen, wie etwa eines vom Sturm aufgewühlten Ozeans: Phänomene, die Angst und Ehrfurcht auslösen oder uns durch ihre Ungeschliffenheit abstoßen. Wenn sich der Betrachter jedoch über seine Furcht erhebt, wenn sein Geschmack die Sinnlichkeit übersteigt, so ist er imstande, die stürmische Meeresbrandung als etwas Faszinierendes, Sublimes wahrzunehmen. Erlebnisse des Erhabenen beschleichen uns bei Botero angesichts der offensiven Hässlichkeit einzelner Bildelemente, wie in Das Orchester, aus dem uns der Gitarrist mit seinen nach unten verlaufenden Mundwinkeln abstoßend entgegen»lächelt«.

Keine Angst vor verdrängtem Kindheitsglauben: das Unheimliche

Der Reiz des Zwiespalts findet sich auch im Genre des Unheimlichen, so als Faszination, die einen beim Anschauen eines Horrorfilms überkommt, wenn Grauen und Genuss aufeinandertreffen. In seiner Abhandlung über Das Unheimliche (1919) beschreibt Sigmund Freud das Gefühl des Unheimlichen als eine ängstliche Gefühlsregung, die auf etwas wiederkehrendem Verdrängtem beruht.7 Als Auslöser des Unheimlichen führt Freud also keineswegs, wie man meinen könnte, das Fremde oder Unbekannte an. Vielmehr zieht er das dem Seelenleben seit Langem Vertraute, das »Heim(e)liche« heran, das durch Verdrängung entfremdet worden ist: So wird aus dem »Heimlichen« schließlich das »Un-heimliche«. Als Erwachsene empfinden wir die Vorstellung von Puppen, die zum Leben erwachen, als gruselig. Der Stoff zahlreicher Psychothriller, wie Chucky oder Dead Silence, lebt davon. Als Kinder jedoch glaubten wir durchaus, Puppen könnten leben, ein Glaube, der eher einem Wunsch als einer Befürchtung entsprang. Im Zuge des Erwachsenwerdens verdrängten wir unseren Zweifel über die Belebtheit eines Gegenstands. Wenn wir nun einem Phänomen begegnen, das an diesen überwundenen Vorstellungen rührt, empfinden wir das als unheimlich.
Solche Momente erleben wir bei Botero dort, wo sich eine vertraut liebliche Malweise, die an Kinderbilderbücher denken lässt, mit einer Starrheit in Gesicht und Körper der Dargestellten verbindet. Unheimlich zumute wird einem etwa beim Betrachten der Tänzer, wo sich unter der bunten Lampionkette, in einer tanzenden Menschenmenge eine seltsam bedrückende Leblosigkeit versteckt. Jede Person erscheint, trotz ihres Tanzschritts, gänzlich unbewegt und starr. Das Bild erzeugt bei all seiner Farbigkeit und dem Sujet eines Volksfestes etwas zutiefst Beunruhigendes, was der irritierenden Unbelebtheit geschuldet ist, mit der Botero seine Personen versieht.

Keine Angst vor dem grandiosen Scheitern: Camp

Boteros naive Malweise birgt Aspekte, die uns jenseits des Unheimlichen rühren. Seine Formen sind vereinfacht, seine Gegenstände, ob Mandolinen oder Bananen, bauchig, unbeweglich, schwer. Die Personen sind nicht nur voluminös, sondern auch unproportional und »fehlerhaft« konstruiert. Vielleicht kann uns ein Blick auf Boteros Spiel mit seiner naiv-»dilettantischen« Formensprache helfen, einen zentralen Aspekt seiner Faszinationskraft zu ergründen.
Mitte der 1960er-Jahre verfasste die Theoretikerin Susan Sontag eine Sammlung kunst- und kulturkritischer Essays, darunter 1964 »Anmerkungen zu Camp«. Auch Sontag setzt an dem Phänomen an, dass nicht nur jenes fasziniert, was schön, harmonisch und angemessen ist, sondern auch und gerade das, was uns in gewisser Weise abschreckt: das Unförmige, Misslungene, Übertriebene. In Melancholie, 1989 sehen wir einen Herrn in Damenbekleidung, geschminkt und geschmückt in einem Wohnraum sitzend, der sich in einem kleinen Handspiegel betrachtet. Den Geschlechterwechsel zieht er nur inkonsequent durch, seine Schuhe und Socken, die Behaarung seines Körpers und ein Oberlippenbart stören die Zurschaustellung weiblicher Accessoires, den Nagellack und die feminine Pose. Das Bild oszilliert zwischen Humor, Traurigkeit und einer Liebe zur Ungereimtheit. Melancholie erzählt vom Zauber eines kühnen Versuchs.
Der sogenannte »gute Geschmack« grenzt sich – wie schon bei Kant und Bourdieu – auch laut Sontag nach unten hin von einem naiveren, unkultivierten Geschmack ab. Camp wiederum schafft es, ähnlich wie das Erhabene, sich von den beschränkenden Vorgaben des »Geschmackvollen« zu befreien und das Scheitern sowie die maßlose Übertreibung zu feiern. »Der Mensch, der auf hohen und ernsten Vergnügungen besteht, beraubt sich seines Vergnügens; er schränkt seine Möglichkeiten zu genießen immer mehr ein (…).«8

Der Geschmacksmuskel

Pfaller beschreibt den Geschmack als einen Muskel, der herausgefordert und stimuliert werden muss. Diese Herausforderung kann sich etwa durch ungewohnte Geschmacksobjekte stellen, die unserem Geschmack signalisieren: »Wenn Du willst, dass ich Dir gefalle, dann musst Du Dich ein bisschen anstrengen. Denn ich gefalle nur besonders cleveren, raffinierten, ausgefuchsten Geschmäcken.«9 Diesen Appell an den Geschmacksmuskel liefern die genannten ästhetischen Erlebnisweisen: das Erhabene, das Unheimliche, wie auch der Camp-Geschmack. In allen drei Fällen gelingt es uns nicht, zwiespältige Objekte zu lieben, solange uns der Mut fehlt, unseren Geschmack über das »Geschmackvolle« zu erheben und unserem Geschmacksmuskel zuzutrauen, neue, womöglich irritierende Genüsse zu bewältigen. Man könnte behaupten, unser Geschmacksmuskel würde bei Botero nicht gefordert, da dessen Ästhetik auf so vielen Ebenen zugänglich ist, also als »leicht genießbar« erscheinen könnte. Doch ist es nicht vielmehr so, dass gerade diese »Heimeligkeit« der Bilder das ist, was uns anzieht und zugleich abstößt? Ist nicht die leichte Zugänglichkeit dieser figurativen Malerei etwas, das sie unheimlich macht? Das Bad, 1989, zeigt vorerst nur die Rückenansicht einer nackten Frau, deren Füße in kleinen Schühchen stecken, in ihrem Haar ein Schleifchen, und daneben die detaillierte Schilderung eines unspektakulären Badezimmers. Dann blickt man in das Spiegelbild der Porträtierten, die sich starr und unproportional mit langer Nase und runden Augen in einem rot getönten, dicken Gesicht betrachtet, und über die kokett-liebliche Szenerie lagert sich eine verstörende Stimmung, die auf alle hübschen Details des Interieurs übergreift und ihre Lieblichkeit ins Wanken bringt.

Wie viel Ambivalenz erlaubt unsere westliche Gegenwartskultur?

Wie ist es zurzeit in unseren Breitengraden um die Ästhetik des Scheiterns bestellt? Wird der Muskel, der uns erlaubt, den schönen Schrecken und das schrecklich Schöne zu feiern, in der westlichen Gegenwartskultur ausreichend gefordert? Boteros Frauen und Männer wiegen wohl alle über 100 Kilo. In den USA diskutiert man derzeit die Einführung einer Dickensteuer, um das Gesundheitssystem zu entlasten. Im Bereich der Medien und der Mode herrscht ein Körperbild der Askese. »Diese armen, mageren Wesen sind offenbar genau das, was ein träge gewordener Geschmack, der keinem Ideal mehr folgen will, zwar nicht als schön, aber wenigstens als zumutungsfrei empfindet«, so Pfaller. Appetit auf eine solche Zumutungslosigkeit habe »genau jener Couch-Potato von Geschmack, der keinerlei gespenstischen Idealgeschmack dulden will.«10 Schöne Menschen, im Sinne des »Idealgeschmacks«, sind eben nicht makellos. Pfaller verweist auf die Nase der Kleopatra, die bei den römischen Kaisern größtes Begehren auszulösen vermochte und die heute ein typischer Fall für eine kosmetische Operation wäre. »Eine Kultur, die ständig nach Makellosigkeit strebt, hat die Fähigkeit verloren, zwiespältige Elemente in etwas Großartiges zu verwandeln. Wir versuchen sie zu unterdrücken, zu verbieten oder wegzuoperieren.«11

Macht sich in westlichen Gesellschaften derzeit ein Couch-Potato- Geschmack breit? Laut Sontag lässt sich Camp, als Paarung von Ästhetizismus und Ironie, vorwiegend in der Gruppe der Homosexuellen finden. Diese Beobachtung scheint auch heute noch zutreffend, betrachtet man die Liebe zum Übertriebenen, Ausladenden, wie man sie in manchen Schwulenclubs antrifft, wo Maskerade hochlebt, die Lichter bunt sind und in jeder Hinsicht das Motto »mehr ist mehr« gilt: je glitzernder, körperbetonter, exzessiver, desto besser. Ansonsten scheint in kulturell gebildeten, urbanen Kreisen das Gegenteil zu regieren. Es dominiert der Purismus: dezente Farbgebung, Schlankheit, Verzicht, Ernsthaftigkeit, Maß. Maskerade und Überschwang gelten hier als peinlich und out. Die privilegierten heterosexuellen Schichten favorisieren heute meist Stars, deren Auftreten auf Understatement setzt. Der Liedermacher Der Nino aus Wien verspeiste kürzlich bei seinem Auftritt am Wiener Karlsplatz während einer Gesangspause eine Banane auf der Bühne (in zweiter Reihe). Während des gesamten Konzerts behielt er seine Umhängetasche um die Schultern. Eine Geste, die unprätentiös und unambitioniert wirken soll. Grandios scheitern aber kann nur der, der es mutig und voller Leidenschaft darauf anlegt, etwas Besonderes zu sein. Andererseits scheint das ironische Augenzwinkern in unserer postmodernen Geschmackslandschaft allgegenwärtig, ob Stefan Raab beim Eurovision Song Contest mit dem Song »Wadde Hadde Dudde Da« antritt oder ob in zahlreichen TV-Casting- und Reality Shows jene Kandidaten besonders lang im Rennen bleiben, die durch zur Schau gestellte Dummheit brillieren. Ist das nicht genau das, was Sontag in ihrem Essay so positiv als »campy« schildert? Die Kulturindustrie feiert heute alles als »Kult«, was »so schlecht ist, dass es schon wieder gut ist«, womit jedoch das Camp-Konzept ad absurdum geführt wird. Im Gegensatz zum postmodernen Zynismus ist jenes auf sentimentale und liebevolle Weise ironisch. Hier werden die Objekte nie vorgeführt oder lächerlich gemacht, sondern gefeiert, in ihren übertriebenen Ambitionen.
Botero stellt seine verzerrten Übergewichtigen nicht plump zur Schau, in seinen Bildern liegt kein Spott. Diese Darstellungen zeigen uns vielmehr die Anziehungskraft des Disproportionalen und lehren uns den Mut, sich der Schönheit des Zwiespalts zu stellen. »Etwas ist gut, nicht weil es vollendet ist, sondern weil damit eine neue Wahrheit über die Situation des Menschen, eine neue Erfahrung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein (…) aufgezeigt wird.«12

Spricht man von Geschmack, so spricht man von einer Frage der Positionierung: Es geht um das Ausmaß von Eitelkeit, Humor, Abgeklärtheit, Naivität, von Elitentum, Mut und Liebe. Ist es nicht gerade die Aufgabe der Kunst, den Betrachter jene liebende Perspektive zu lehren, die es uns ermöglicht, das Makelhafte in Zauberhaftes zu verwandeln?

 

 

1 Als wichtigste Triebfeder, so Bourdieu, gilt uns hierfür ein Wille zur Abgrenzung, zur Distinktion. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987.
2 Benedictus de Spinoza, Ethik. Nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976, S.120.
3 Robert Pfaller, »Das anonyme Manuskript zur Subjektwerdung«, in: Conflicting Tales: Subjectivity (Quadrilogy, Teil 1), hrsg. von Daniel Kurjakovic, Zürich 2009, S. 160–173, hier S. 166.
4 Pfaller (wie Anm. 3), S. 167.
5 Nach Bourdieu ist dies der Geschmack der herrschenden Klasse.
6 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/geld/promis-und-ihre-versicherungen-der-millionen-
dollar-po-1.261025 (zuletzt aufgerufen am 1. Juli 2011).
7 Jede Gefühlsregung, egal ob ursprünglich als positiv oder negativ erlebt, verwandelt
sich laut Freud durch Verdrängung in Angst. Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche,
Frankfurt a. M. 1963.
8 Susan Sontag, »Anmerkungen zu Camp«, in: dies., Kunst und Antikunst. 24 literarische
Analysen. Essays, München und Wien 2003, S. 322–341, hier S. 340. 9 Pfaller (wie Anm. 3), S. 171.
10 Ebd.,S.172.
11 Ebd.
12 Sontag (wie Anm. 8), S. 335.

 

 

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